Cover
Titel
Geschichte des italienischen Films. Cinema Paradiso?


Autor(en)
Schenk, Irmbert
Erschienen
Marburg 2021: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Schrader, Institut für Romanistik, Universität Innsbruck

Mit Irmbert Schenks Geschichte des italienischen Films liegt erstmals ein Gesamtüberblick in deutscher Sprache über die bedeutsame italienische Filmgeschichte vor und allein dieser Fakt ist überaus begrüßenswert und nicht genug zu loben. Schenk und dem Marburger Schüren Verlag ist ein schönes Buch gelungen, übersichtlich gestaltet, mit vielen Abbildungen und einem Namensregister, das bei der Suche hilft.

Nun ist es mit den Überblicksdarstellungen immer so eine Sache, dessen ist sich natürlich auch der Film- und Medienwissenschaftler Schenk bewusst und so stellt er in seiner kurzen Vorbemerkung sein eher traditionelles Vorgehen und seine Schwerpunkte vor. Im Zentrum stehen die Epochen der italienischen Filmgeschichte, in denen der Film „maßgebend für die Weltkinematographie wird“ (S. 9). Konkret handelt es sich um den Stummfilm vor dem Ersten Weltkrieg, den Neorealismus sowie das Autoren- und Genrekino der 1960er-Jahre bis hin zu den Filmen des Jahres 2020, mit denen er endet. Schenk beschränkt sich in seiner Darstellung nicht auf exemplarische Filme, sondern bemüht sich, der deutschen Leserschaft eine möglichst breite Auswahl vorzustellen, sodass eben nicht nur die in Deutschland kanonisierten Regisseur:innen in den Blick geraten. Seine Darstellung ist weitgehend chronologisch und dann in der Regel nach Regisseur:innen unterteilt. Zugleich verzichtet er auf kulturwissenschaftlich fundierte Analysen, wie sie beispielsweise dank der New Film History vorliegen1, eröffnet aber die einzelnen Kapitel jeweils mit einem kurzen gesellschaftspolitischen Überblick.

Im ersten Kapitel „Der Stummfilm von 1895 bis in die 1910er-Jahre“ (S. 11–47) arbeitet Schenk die Bedeutung der italienischen Kinematografie vor dem Ersten Weltkrieg heraus. Dabei wendet er sich den beiden Höhepunkten zu: Zum einen dem Historien- und Monumentalfilm, der im Zeichen der sich zu imaginierenden jungen Nation zum italienischen Kino par excellence geworden ist.2 Zum anderen der dem Hollywoodianischen Starkult vorausgehende Divenfilm, für den die multimediale Vermarktung des vor allem weiblichen Körpers im Spiel mit der Rollenbiografie und dem „erstellenden Leib“ der Schauspielerin eine zentrale Voraussetzung darstellt.3 Schenk stellt in diesem Zusammenhang wie schon im vorherigen Kapitel nicht nur die relevanten Filme wie Cabiria (1914, Giovanni Pastrone) oder Diven wie Lyda Borelli vor, sondern schaut auch auf die zahlreichen Produktionen, die dieses Phänomen überhaupt erst hervorbringen.

In „Film und Kino nach dem Ersten Weltkrieg und im Faschismus“ (S. 49–76) wendet sich Schenk sowohl dem „dahinvegetierenden“ italienischen Film der 1920er-Jahre als auch der sich eher langsam entwickelnden faschistischen Filmproduktion vom Propagandafilm bis hin zum rein quantitativ bedeutsameren Evasionskino wie dem cinema dei telefoni bianchi zu.

Eine Antwort auf die geschönten Bilder, aber gleichzeitig eine, wenn auch nur bedingte, Fortsetzung der filmtheoretischen Überlegungen der ausgehenden 1930er- und 1940er-Jahre stellt bekanntlich der „Neorealismus“ dar (vgl. S. 77–97). Der Neorealismus hat das italienische, wenn nicht gar das europäische Kino nach dem Zweiten Weltkrieg auf die internationale Bühne gebracht und die Filme gelten bis heute als Maßstab der italienischen Filmkritik und -geschichtsschreibung. Das kritisiert Schenk übrigens völlig zu Recht (vgl. S. 313), kann ihm aber nicht immer entkommen (zum Beispiel S. 247f.), sodass die Monografie implizit einmal mehr die Deutungsmacht der eher traditionellen nationalen Filmkritik und -geschichtsschreibung aufzeigt. So bleibt leider auch in Schenks Filmgeschichte das etwas undifferenzierte Verständnis eines sogenannten „realistischen“, „veristischen“, „neorealistischen“, „neo-neorealistischen“ Kinos, das scheinbar immer dann zum Tragen kommt, wenn von Sozialkritik und den neorealistischen, inzwischen längst konventionalisierten Authentizitätseffekten die Rede ist.4 Diese kritische Auseinandersetzung mit dem Neorealismus findet seit langem vor allem in der angloamerikanischen Kritik statt, aber inzwischen auch in Italien, wie die kürzlich erschienene Arbeit des Udiner Filmwissenschaftlers Francesco Pitassio zum Mythos des Neorealismus zeigt.5

Das anschließende Kapitel über die 1950er-Jahre ist erneut eine Verbeugung vor dem italienischen Kino. Mitte der 1950er-Jahre ist Italien die zweitgrößte Filmindustrie nach Hollywood, Schenk beschreibt die Anfänge der commedia all’italiana (aufgrund ihres Reflexes auf das norditalienische Wirtschaftswunder auch commedia boom genannt) und der großen Autorenfilmer Federico Fellini und Michelangelo Antonioni.

„Der Aufbruch des italienischen Kinos um 1960“ kann mit knapp 90 Seiten als Herzstück der Monografie bezeichnet werden. Es ist, so Schenk, titelgebend in seinem Sammelband die Goldene Zeit des italienischen Kinos6, nämlich, weil sie „einmalig ist: die ästhetische Ausformung sozusagen in der Höhe und in die Breite, also einmal in Autorenfilme […], und zum anderen in das Genrekino der 1960er-Jahre, vom Historienfilm zur Komik, vom Horror zum Italo-Western“ (S. 119). Entsprechend unterscheidet dann auch die Gliederung des Kapitels zwischen Autorenfilmern wie Antonioni, Bertolucci, Bellocchio, Fellini, Pasolini, Visconti, Werthmüller und eben den berühmten italienischen Genres. Gerade in diesem Herzstück zeigt sich eine Schwäche der Überblicksdarstellung: Natürlich ist es generell unmöglich, in angemessener Länge Filmgeschichte zu schreiben. Die Darstellung Schenks bleibt aber sehr deskriptiv, zumal er zwar äußerst kenntnisreich die wirklich zahlreichen Filme zusammenfasst, aber leider nur sehr, sehr kurz auf ihre Ästhetik und/oder auf ihre kulturhistorische Aufladung eingeht. Dieses Manko zeigt sich meines Erachtens vor allem für die großen Genreproduktionen wie den western all’italiana oder auch die commedia all’italiana. Statt der Darstellung vieler Filme wäre vielleicht doch manchmal ein vertiefender Blick auf die Prinzipien sinnvoll gewesen.

Das gilt auch für das sechste und siebte beziehungsweise das vorletzte und letzte Kapitel „Krise und Neuanfang des italienischen Kinos“ und „Das Kino der Gegenwart“, die dann leider fast nur noch deskriptiv ausfallen. Um nur einige der aufgeführten Filmemacher:innen neben den Altmeister:innen zu nennen: Paolo und Vittorio Taviani, Marco Ferreri, Citto Maselli, Pupi Avati, Massimo Troisi, Nanni Moretti, Gianni Amelio, Francesca Archibugi, Cristina Comencini, Giuseppe Tornatore, Gabriele Salvatores, Paolo Virzì oder Roberto Benigni. Einige sind in Deutschland bekannt, aber längst nicht alle haben es in die deutschen Kinos geschafft. Sie haben auf alle Fälle das in den 1980er-Jahren immer wieder totgesagte italienische Kino ganz wunderbar belebt. Umso schöner, dass sie auf diesem Wege dem deutschen Publikum nähergebracht werden.

Irmbert Schenks Geschichte des italienischen Films ist ein wichtiges Nachschlagewerk, weil es einen großen Fundus an Filmen offenbart. Vielleicht geht es nicht anders, aber es ist schade, dass der Autor weitgehend darauf verzichtet, zeitgenössische Tendenzen wie die des Kinos des Regionalen7 oder des Transnationalen8 stärker zu profilieren. Alternativ hätte man diachrone Achsen aufzeigen können, beispielsweise mit einem Fokus auf die das italienische Kino durchziehende kindliche Perspektive9, mit dem kinematografischen Ringen um die Nation in den vielen Roadmovies oder mit der langen Geschichte der organisierten Kriminalität. Der Autor verzichtet bewusst auf Fußnoten und auf eine ausführliche Bibliografie. So kommt die Monografie nicht zu akademisch daher, aber gerade in dem Bemühen Schenks, eine große Breite von klassischen bis hin zu populären Filmen zu erfassen, wären weiterführende Literaturhinweise ausgesprochen sinnvoll gewesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Elsaesser, The New Film History as Media Archaeology, in: Cinémas: Journal of Film Studies 14/2–3 (2004), S. 75–117; James Chapman / Mark Glancy / Sue Harper (Hrsg.), The New Film History. Sources, Methods, Approaches, Basingstoke 2007.
2 Vgl. Giovanni Spagnoletti, Perspektiven auf das Risorgimento und die Resistenza. Der italienische Film, in: Rainer Rother (Hrsg.), Mythen der Nationen. Völker im Film, München 1998, S. 150–167, hier S. 151.
3 Elisabeth Bronfen, Zwischen Himmel und Hölle. Maria Callas und Marilyn Monroe, in: Dies. / Barbara Straumann, Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002, S. 42–68, hier S. 47.
4 Vgl. zu Authentizitätseffekten im Allgemeinen: Markus Kuhn, Das narrative Potenzial der Handkamera. Zur Funktionalisierung von Handkameraeffekten in Spielfilmen und fiktionalen Filmclips im Internet, in: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 2.1 (2013), S. 92–114, hier S. 93, <https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/127/149> (27.11.2021); vgl. die etwas polemische Kritik an der scheinbar linearen „Tradition“ des Neorealistischen in der italienischen Filmgeschichte Alan O'Leary / Catherine O'Rawe, Against realism: on a 'certain tendency' in Italian film criticism, in: Journal of Modern Italian Studies 16/1 (2011), S.107–128; vgl. in kritischer Auseinandersetzung mit dem Realismuskonzept im italienischen Film Mary P. Wood, Italian Cinema, Oxford 2005.
5 Francesco Pitassio, Neorealist Film Culture 1945–1954. Rome, Open Cinema, Amsterdam 2019.
6 Thomas Koebner / Irmbert Schenk (Hrsg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008.
7 Birgit Wagner / Daniel Winkler (Hrsg.), Nuovo Cinema Italia. Das italienische Kino meldet sich zurück, Wien 2010.
8 Aine O’Healy, Migrant Anxieties. Italian Cinema in a Transnational Frame, Bloomington 2019.
9 Vgl. Marcia Landy, Italian Films, Cambridge 2000, S. 222ff.

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